Leseprobe - Bernhard Weißbecker

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Die Entfernung des Mondes

Leseprobe aus dem Roman "Die dunkle Seele des Mondes"

Jeremias blickte dem Professor entgegen. Sein Gesicht war recht blass und bis auf die große schlanke Nase wenig auffällig. Er war noch nicht alt, vielleicht sogar jünger als Vater, und sein Mund schien zu lächeln. Sah so ein Mann aus, der die Geheimnisse dieser Welt kannte? Er trug einen schwarzen Umhang, der vorne offen stand – immerhin etwas, das ihn von den anderen Menschen hier unterschied, ihn ein wenig wie einen Priester erscheinen ließ.
Sophie trat an ihn heran, sprach zu ihm, während Jeremias reglos stehen blieb und abwartete, was passieren würde. Er erschrak, als der Professor seinen Blick auf ihn richtete und an ihn herantrat.
„Nun, mein Junge“, sagte er. „Deine Tante sagt, du möchtest mich etwas fragen. Was kann ich also für dich tun?“
„Wie weit weg ist der Mond?“, fragte Jeremias und musterte erwartungsvoll den Professor. Würde er nun endlich eine Antwort auf seine Frage erhalten? Oder würde der Professor böse werden, so wie Vater? Nein, sein Gesicht zeigte ein Lächeln, als er antwortete.
„Eine seltsame Frage für einen jungen Mann wie dich“, sagte er. „Warum willst du das wissen?“
„Ich … ich … “, stammelte Jeremias. „Können Sie es mir sagen?“
„Gewiss, das kann ich. Der Mond ist etwa fünfzigtausend Deutsche Meilen* entfernt. Meistens etwas mehr, zuweilen etwas weniger. Fünfzigtausend Meilen – kannst du dir das vorstellen?“
Jeremias mochte Zahlen. Er wusste, dass man die Tausend erreichte, wenn man zehn mal bis hundert zählte. Aber fünfzigtausend war eine unvorstellbare Zahl. Und eine einzige Meile war schon ein langer Weg.
„Nein“, sagte er.
„Die Entfernung entspricht sechzigmal dem Halbmesser unserer Erdkugel. Vielleicht hilft dir das weiter.“
Jeremias fühlte Tränen in seine Augen treten. Endlich hatte er eine Antwort auf seine Frage – und er verstand sie nicht. Die Zahlen tanzten durch seinen Geist, aber sie traten zurück, als eine neue Frage auftauchte:
„Sind Sie dort gewesen?“
„Nein, wirklich nicht!“ Der Professor lachte leise. „Niemand ist dort gewesen. Aber ich habe es gemessen.“
„Wie geht das?“, fragte Jeremias.
„Es ist nicht leicht zu erklären. Hast du Kenntnisse in der Trigonometrie? Weißt du, was ein Sinus ist? Und ein Kosinus?“
Jeremias schüttelte seinen Kopf. Er griff nach Sophies Hand und hielt sich an ihr fest, um den Impuls zu überwinden, einfach wegzulaufen. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Professor bückte sich zu ihm herunter, seine Hand griff sanft nach dem Kinn des Jungen.
„Weine nicht“, sagte er. „Ich kann dir das alles nicht so einfach erklären. Aber ich will dir ein Kunststück verraten. Komm mit mir, dort drüben an die Straße.“
Er ging voran zu dem Durchgang, an dem Sophie die Kutsche abgestellt hatte, und wies mit einer Hand zu dem gegenüberliegenden Haus.
„Stelle dich hier neben mich – was denkst du, wieviele Schritte du brauchst, um über die Straße zu gehen?“
Jeremias blickte zu dem Gebäude hinüber, das auf der anderen Straßenseite stand. Es war ein großes Haus, zu dessen zweiflügeliger Eingangstür eine Treppe hinaufführte. Über der Tür war ein großes Schild angebracht, doch es hing so, dass die beschrifteten Seiten die Straße hinauf und hinunter zeigten, während der Junge von seinem gegenwärtigen Standort aus nur auf die seitliche Kante blickte. Was wohl darauf geschrieben stand? Gleichzeitig geisterten seltsame Wörter durch seinen Sinn – Wörter, die der Professor gesprochen hatte: Sinus. Kosinus. Trigonometrie. Würde jede Antwort immer nur neue Fragen aufwerfen? Das Haus gegenüber! Darauf musste er sich nun konzentrieren.
„Nun“, sagte der Professor, „was denkst du? Wie viele Schritte würdest du brauchen?“
Jeremias dachte angestrengt nach. Was hatte diese Straße mit dem Mond zu tun? Und warum wollte Mayer auf die andere Seite?
„Was ist in dem Haus?“, fragte er.
„Eine Gaststätte“, sagte der Professor, „man nennt sie die Londonschenke. Aber das ist nicht wichtig. Nun gut, wenn du nicht schätzen willst, dann könntest du hinübergehen und es ausprobieren. Aber ich will dir einen Weg zeigen, wie du es herausfindest, ohne die Straße zu überqueren.“
Jeremias sah den Professor mit großen Augen an.
„Wie geht das?“
„Es ist ganz einfach. Halte nur eine Hand vor deine Augen, so als wolltest du dich vor der Sonne schützen. Senke die Hand so weit herunter, dass du das Haus gegenüber genau verdeckst und nur noch die Straße siehst. Hast du das verstanden?“
„Ja“, antwortete Jeremias, während er versuchte, seine Hand genau auszurichten.
„Und jetzt kommt der Trick. Du musst deine Hand und deinen Kopf genau so halten wie jetzt und dich vorsichtig zu mir herüberdrehen, sodass du ein Stück des Bürgersteigs auf dieser Seite der Straße siehst. Was ist das Letzte, das du sehen kannst, bis dein Blick von deiner Hand begrenzt wird?“
„Dort stehen zwei Männer. Ich kann gerade noch ihre Füße sehen.“
„Sehr gut. Dann kannst du jetzt deine Hand wieder herunternehmen. Gehe zu den Männern hin und zähle dabei deine Schritte.“
Jeremias blickte fragend zu Sophie und diese nickte ihm lächelnd zu. Er ging los und tat, was der Professor ihm aufgetragen hatte. Als er sechzehn Schritte gezählt hatte, war er dicht bei den Männern angelangt und blieb ängstlich stehen, da er sich nicht näher an sie heranwagte. Er dreht sich zu Sophie und dem Professor um und stellte erleichtert fest, dass beide ihm gefolgt waren.
„Sechzehn“, sagte er.
„Sehr gut“, sagte der Professor. „Es scheint mir, dass du noch zwei Schritte machen könntest, bevor du die beiden Herren erreichst, nicht wahr?“
Jeremias nickte.
„Damit wärest du also bei achtzehn Schritten. Nun, und dies ist auch die Lösung meines kleinen Rätsels. Du würdest achtzehn Schritte brauchen, um über die Straße zu gehen.“
„Warum?“, fragte Jeremias.
„Weil die Strecke, die du unter deiner Hand siehst, die gleiche ist, egal, in welche Richtung du schaust. Du solltest dir dieses Kunststück merken. Du kannst es benutzen, um zu erfahren, wie breit ein Graben ist, bevor du versuchst, darüber zu springen. Das kann sehr nützlich sein. Ich wäre selbst beinahe einmal ertrunken, weil ich über einen Graben springen wollte, der breiter war, als ich gedacht hatte.“
„Aber … kann ich so auch messen, wie weit weg der Mond ist?“
„Nein, das ist schwieriger“, sagte der Professor. „Aber die Methode beruht auf dem gleichen Prinzip. Dazu musst du noch viel lernen – Geometrie, Trigonometrie, all diese Dinge. Sei fleißig, suche nach Wissen, und in ein paar Jahren kannst du vielleicht Student sein und die Astronomie bei mir erlernen. Doch nun bitte ich um Vergebung, eine dringende Pflicht erwartet mich, und ich muss eilen.“
Jeremias sah dem Professor hinterher, der mit schnellen Schritten um die nächste Ecke verschwand. In seinem Kopf hallten die Worte wider, die der Professor gesagt hatte: in ein paar Jahren kannst du vielleicht Student sein! Der Gedanke war so faszinierend, dass der Junge alles um sich herum vergaß. Könnte aus ihm wirklich so ein Mensch werden? Würde er lachend die Straße entlanglaufen und alle würden für ihn Platz machen? Der Professor hatte es gesagt. Der Professor, der wusste, wie weit weg der Mond ist. Fünfzigtausend Deutsche Meilen!

* Die Länge der Deutschen Meile beträgt nach heutigem Maßstab ca. 7420 m

(C) 2010 Bernhard Weißbecker
 
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